Früher war mit das Nervigste, was einem passieren konnte, dass die Mormonen geklingelt haben. Zwei Amis, in adretten dunklen Anzügen, akkurat frisiert, höflich – und wenn man deutlich machte, dass kein Interesse am Buch Mormon bestand, waren sie auch im Nu und ohne Gezeter wieder weg.
Heute stehen an jeder Ecke im Netz Dutzende selbsternannte Missionare, Weltenerklärer, Erzieher, Alleswisser und Moralapostel, die einem ungefragt 24 Stunden lang an sieben Tagen die Woche auf den Sack gehen.
Da wird mir mit maßloser Penetranz in Dauerschleife von Hinz und Kunz beigebracht, was ich zu essen habe, wie ich mich fortzubewegen habe, wo und was ich zu einzukaufen habe, wer mein Vorbild zu sein hat, was ich zu denken habe, wie ich zu sprechen habe etc etc etc.
Das geht schon mit der Eigenbescheibung im Profil los, in der es von Hashtags des Horrors nur so wimmelt. #NoDies, #NoDas, pseudo-selbstironisches #linksgrünversifft … Nichts als Schlagworte, Worthülsen und Stereotypen. Und damit das auch der Letzte kapiert, das alles noch drapiert mit hübschen, aber hirnverbrannten Emojis.
Das betrifft beileibe nicht nur Twitter, sondern längst auch das vermeintlich nette, gute Fediverse. Da sind die vorgeblichen Gutmenschen noch stärker repräsentiert. Erst recht, seit sie Plattformen wie Mastodon für sich entdeckt und gleich daran gemacht haben, sie mit haufenweise Gleichgesinnten in ein Ebenbild ihres alten Deppen-Biotops zu verwandeln. Erfolgreich.
Statt sich in irgendeinem Park auf eine Kiste bzw. Leiterchen zu stellen, um von dort ihren Sermon zum Vortrage zu bringen, bevölkern die Amateur- und semiprofessionellen Nervensägen mit ihrem gefühlt gekreischten Gemähre das ganze Netz von früh bis spät. Und wenn sie laut genug krakeelen, finden sie noch Widerhall in den Mainstreammedien. Die haben ihre wichtigste Funktion, Mediator und ehrliche Makler zu sein, schon lange aufgegeben. Freiwillig. Ohne Not. Weil: Zeitgeist.
Das alles meist hingerotzt ohne Punkt und Komma. Genau so armselig hingekliert wie gedacht. Ein intellektueller und sprachlicher Totalausfall reiht sich an den nächsten.
Fast keiner und keine von denen begnügt sich damit, ungefragt lediglich lauthals der Welt zu verkünden, was sie so machen und wie. Das wäre lediglich lästig, aber noch halbwegs harmlos. Nein, es muss immer die Oberlehrerattitüde sein, die Herablassung. Ohne die missionarische Strafandrohung, die Nötigung, die Zwangsbeglückung und Volkserziehung, ohne das Menetekel des Weltuntergangs geht es nicht. Diktat statt Diskurs. Folgt der Sandale!
Wo man auch hinsieht, Eiferer, Flagellanten und Propheten. Das Mittelalter ist zurück. Poenitentiam agite!
Folglich überall Gedanken- und Sprechverbrechen. Pardon und Bewährung wird nicht gewährt. Anschuldigung, Beschuldigung, Anklage, Urteil und als Strafvollzug die öffentliche Steinigung ist quasi ein- und dasselbe. In Echtzeit. Das Böse ist immer und überall. Wer nur gecancelt wird, hat noch Glück gehabt.
Immer öfter lese ich auch, dass man mit demokratischen Mitteln nicht mehr weiterkomme, um dem globalen Elend abzuhelfen. Das sei alles überholt. Irgendwelche Räte sollen es richten. Oder zur Not halt eine Notstandsregierung, die das halt irgendwie darf, weil sie ja nicht geringeres bewirkt, als die Welt zu retten. Von Freiburg aus. Oder Edewecht.
Erstaunlich, wie wenig Widerstand das faschistoide Gefasel noch provoziert.
Da darf einem schon angst und bange werden.
Und man wünscht sich die netten Mormonen zurück.