Als ich ein kleiner Junge war, war da dieses Wort. “Rumänien”. Mein Vater sagte manchmal auch “Romania”. Es klang irgendwie geheimnisvoll. Ich konnte nicht viel damit anfangen. Ich wusste nur, dass es ein fernes Land war. Es hatte etwas mit Papa zu tun. Manchmal fluchte er auch in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Das klang dann sehr böse. Ich wusste nicht, wie das ging, aber er kam von dort, und gelegentlich wurde davon gesprochen. Ich wusste auch, dass es dort Leute gab, die zu unserer Familie gehörten. Ich hatte sie aber nie gesehen.
Es gab in unserer Stadt, in Bielefeld, auch noch andere Familien aus Rumänien. Mit denen waren wir auch irgendwie verwandt. Manchmal besuchten wir sie. Die Großen tranken Kaffee und aßen Kuchen. Mein Papa und andere Männer saßen zusammen und redeten von Dingen, die ich nicht verstand. Einer hatte ein steifes Bein, das er beim Gehen wie eine Sense schwang. Von den Frauen bekam ich Bonbons und wurde abgeknutscht. Das war Rumänien für mich.
Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal in dieses geheimnisvolle Land gefahren bin. Es war eine sehr lange Zugfahrt. Ich erinnere mich, dass man im Zugabteil die Sitze zusammenschieben konnte. Darauf konnte man schlafen. Das fand ich interessant. Noch spannender aber war es, das Fenster nach unten zu schieben. Dann stand ich auf dem Sitz, hielt meinen Kopf aus dem Fenster, und in Kurven konnte ich die Lokomotive sehen. Es ratterte und schaukelte und zischte. Es roch nach Feuer. Aus dem Schornstein der Lok quoll dichter weißer Qualm. Der Wind zerrte an mir und ich versuchte, so lange wie möglich die Augen offen zu halten und nach vorne zu schauen. Irgendwann bekam ich etwas ins Auge und musste ich das Fenster zumachen. Dann gab es Brote, die Mama für die Reise geschmiert hatte, und Äpfel.
Es war eine lange Reise, aber irgendwann waren wir da. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte, aber es war auf jeden Fall ganz anders als bei uns. Es war sehr heiß. Der Bahnhof war klein. Die Häuser waren nicht so hoch wie bei uns in der Stadt. Die Straßen waren nicht gepflastert oder asphaltiert und hatten tiefe Rinnen. Es liefen darauf schnatternde Gänse herum. Ich ging ihnen aus dem Weg, weil mich zuhause an den Stauteichen einmal ein Schwan gebissen hatte.
“Glogowatz”. So hieß das Dorf. Wieder so ein witziges Wort. Es waren immer viele Leute da, junge und alte, Männer und Frauen. Die Männer trugen immer Hüte. Die Frauen waren dick und trugen Kopftücher und schwarze Kleider mit Schürzen. Ich verstand, dass sie meine Tanten waren. Sie hießen Res und Lis. Sie streichelten mir über den Kopf und redeten auf mich ein, aber ich bekam nicht alles mit, da sie die Worte merkwürdig aussprachen. Sie lachten viel und waren sehr nett. Mein Papa lachte auch viel. Die Tanten stopften mich von morgens bis abends mit Essen voll oder versuchten es zumindest. Ich war spindeldürr, und anscheinend dachten sie, das müsse dringend geändert werden. Ihr mahnendes, langgezogenes “Mihai, iiisss!” habe ich noch heute im Ohr. Ich war aber wählerisch und aß längst nicht alles. Überhaupt machte ich mir damals nicht viel aus Essen. Aber das duftende Brot mochte ich.
Das Wasser kam aus einem Brunnen im Hof. Der Eimer klapperte an einer Kette im Schacht. Dort wurde ich auch abgeschruppt und der Staub abgewaschen, wenn ich mit den anderen Kindern gespielt hatte. Wir gingen oft auf einen Bolzplatz, wo wir mit einer rissigen, alten Lederpille spielten, aus der dauernd die rote Gummiblase herausquoll.
Ich glaube, ich habe ziemlich viel gequengelt, weil es nirgendwo Kaugummiautomaten gab. Und Kaugummi war für mich damals das Größte. Dafür bekam ich klebrige Karamellbonbons, die in Wachspapier eingewickelt waren. Und in einem kleinen Laden in der Nähe das Bahnhofs gab es leckere, sprudelnde Limonade aus großen Glasflaschen mit einem silbernen Hahn oben drauf. So ähnlich wie der Siphon mit Patronen, den wir zuhause hatten.
Wenn ich nicht mit den anderen Jungs Fußball spielte, gingen wir durch die Felder an einem Fluss. Der hieß Marosch. Er war breit und träge, und das Wasser war braun. Wir sprangen von einer Böschung hinein, die mir sehr hoch vorkam. Das machte Spaß. Auf die Warnungen, dass im Wasser Steine sein könnten, gab ich nichts. Wir hatten auch Spaß daran, auf dem Weg zurück durchs Dorf barfuß die Maulbeeren zu zertreten, die von den Bäume gefallen waren. Oft kam ich mit blauen Füßen heim.
Einmal sind wir auch in eine nahe Stadt gefahren. Sie hieß Arad. Dorthin kam man mit einer Bimmelbahn, die meine Tanten Tram nannten. Die Bänke in den Abteilen waren aus Holz und man konnte an beiden Seiten direkt aussteigen. Es gab keinen Gang. Die Tram fuhr nur langsam. Sie quietschte und schaukelte mächtig.
Arad war eine richtige Stadt, beinahe wie zuhause. Dort gab es zwar auch keine Kaugummiautomaten, aber dafür Eis in Waffeln. Und wir gingen wieder baden in der Marosch. Diesmal aber in einer Badeanstalt direkt am Fluss. Meine Mama bekam einen Sonnenbrand. Und ich bekam einen roten Ball mit weißen Punkten.
Als wir nach Hause fuhren, waren wieder viele Leute am Bahnhof. Es wurde geküsst und gedrückt. Mit der Tram schaukelten wir von Glogowatz nach Arad und dann weiter mit dem Zug nach Hause.
Ich freute mich auf meine Straße, meinen Roller. Und auf Kaugummi.