Nachrichten in Zeiten des Terrors

Aus gege­be­nem Anlass hole ich die­sen Text mal aus der Ver­sen­kung. Der Anlass war im Novem­ber 2015 ein ande­rer. Die Pro­blem­la­ge aber ist die­sel­be.[1]Der for­ma­tier­te Text mit Fotos etc. fin­det sich hier: https://www.deutschlandfunk.de/aus-der-nachrichtenredaktion-nachrichten-in-zeiten-des.1818.de.html?dram%3Aarticle_id=338053 Es erscheint mir mehr als ange­bracht, die­se sehr ver­nünf­ti­ge Sicht­wei­se auf das, was Jour­na­lis­ten leis­ten sol­len, müs­sen und kön­nen, in Erin­ne­rung zu rufen. Sehr wohltuend.

Nachrichten in Zeiten des Terrors


Bun­des­tag, EU-Gip­fel und Infla­ti­on, das ist Nach­rich­ten­all­tag. Ter­ror, das ist etwas ganz ande­res. Wie macht man in sol­chen Zei­ten anstän­di­ge Nach­rich­ten, ohne Hek­tik, ohne Ober­fläch­lich­keit, ohne Panik?

Von Mar­co Bertolaso

Panik­ma­che
Panik­ma­che ist defi­ni­tiv nicht Auf­ga­be einer Nach­rich­ten­re­dak­ti­on. Was schlimm ist, ist schlimm. Aber die Anschlä­ge in Paris machen Tübin­gen nicht per se zu einem gefähr­li­chen Ort. Und wir soll­ten das auch nicht nahe legen.

Spra­che
Geor­ge W. Bush mag nach 911 vom Krieg spre­chen, auch der fran­zö­si­sche Prä­si­dent mag es nach den Anschlä­gen von Paris tun. Wir nicht. Wir zitie­ren, wir machen Stim­mun­gen und Spin deut­lich. Aber wir tra­gen kein Kha­ki. Und in ers­ter Linie berich­ten wir dar­über, was ist. Das kön­nen Sie auf alle sons­ti­gen Ver­ein­fa­chun­gen und Wer­tun­gen übertragen.

Distanz
Wir wah­ren die Distanz der Bericht­erstat­ter. Wir prä­fe­rie­ren kei­ne bestimm­ten Reak­tio­nen auf Ter­ror. Nicht in den Nach­rich­ten. Wir erör­tern Ent­schei­dun­gen, wir zei­gen das Pro und Con­tra auf. Wir las­sen alle zu Wort kom­men. Wir neh­men auch nie­man­den in Sip­pen­haft. Nicht die Mus­li­me, nicht Bewoh­ner von Molen­beek oder die der Pari­ser Vor­stadt Saint-Denis.

Neu­tra­li­tät
Natür­lich sind wir unpar­tei­isch. Doch das wich­ti­ge Dik­tum, man möge sich mit kei­ner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, die­se Maxi­me hat eine Fuß­no­te: Wir machen natür­lich kei­ne »Green­peace-und-Amnes­ty-Nach­rich­ten«. Aber der glei­che Abstand zu Ter­ro­ris­ten und fran­zö­si­scher Regie­rung? Unmög­lich. Wir sind auf Wer­te ver­pflich­tet, in Deutsch­land sind wir »die Grundgesetzpresse«.

Ver­hält­nis­mä­ßig­keit
Ein Anschlag in Paris, Ter­ror­alarm in Brüs­sel, das ist wich­tig, sehr wich­tig für Men­schen in Deutsch­land. Wir reden über Nach­barn, viel­leicht über Freun­de und Bekann­te. Wir spre­chen von der gemein­sa­men EU-Hei­mat und einer gemein­sa­men Bedro­hung. Wir dür­fen aber nicht die Anschlä­ge des­sel­ben soge­nann­ten »Isla­mi­schen Staa­tes« in Anka­ra klein machen, wir dür­fen nicht Boko Haram ver­ges­sen. Wir wür­den den Auf­trag ver­feh­len, die Welt­po­li­tik ver­ständ­lich zu machen. Es wäre auch nicht klug. Denn im Grun­de ist es die eine unteil­ba­re Gefahr. Ganz abge­se­hen von dem Respekt vor den Opfern in der Tür­kei, in Nige­ria und andernorts.

Wur­zeln des Terrors
Wer ande­re Men­schen tötet ist schwerst­kri­mi­nell und muss zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Soweit, so klar. Geht es um die Hin­ter­grün­de, ist aber auch das zu beach­ten: Wenn die meis­ten Ter­ro­ris­ten in Paris den Pass eines euro­päi­schen Lan­des haben, wenn sie in unse­rer Nach­bar­schaft groß gewor­den sind, dann tun wir nicht so, als wären die Angrei­fer Außer­ir­di­sche, als gäbe es kei­nen Zusam­men­hang zur Lage der Inte­gra­ti­on in Euro­pa. Wenn ver­bün­de­te Staa­ten den soge­nann­ten »Isla­mi­schen Staat« unter­stüt­zen und finan­zie­ren, dann müs­sen wir auch dar­über berich­ten. Auch wenn Deutsch­land Waf­fen in die­se Län­der lie­fert und wich­ti­ge Wirt­schafts­be­zie­hun­gen unter­hält. Ja dann erst recht.

Zusam­men­hän­ge
Wenn Poli­ti­ker einen Zusam­men­hang zie­hen zwi­schen Ter­ror und Flücht­lings­be­we­gung, dann berich­ten wir. Wir machen uns das aber nicht zu Eigen. Am Tag nach den Anschlä­gen in Paris hieß es, zwei getö­te­te »Atten­tä­ter sei­en Migran­ten aus Syri­en gewe­sen«. Denn man habe die Päs­se gefun­den. Ich bin stolz, dass die DLF-Nach­rich­ten dies auf­ge­grif­fen haben mit der Klar­stel­lung, dass man nicht wis­se, ob es die ech­ten Päs­se der Män­ner gewe­sen sei­en. Heu­te wis­sen wir ziem­lich sicher: es war nicht so.

Fak­tor Religion
Dar­um kön­nen wir kei­nen Bogen machen. Die Mor­de wer­den vor­geb­lich im Namen einer Reli­gi­on began­gen. Wir müs­sen das erklä­ren, aber eben auch berich­ten, dass fast alle Anhän­ger die­ser Reli­gi­on mit Gewalt nichts zu tun haben. So hät­te es der Deutsch­land­funk ver­mut­lich im Mit­tel­al­ter auch in der Bericht­erstat­tung über die Kreuz­zü­ge gehalten.

Putin, Erdo­gan et. al.
Wir müs­sen die Hand­lun­gen auto­ri­tä­rer Prä­si­den­ten und Regie­run­gen ver­deut­li­chen. Wir müs­sen aber auch erklä­ren kön­nen, war­um es Mehr­hei­ten für die­se Poli­ti­ker und Regie­run­gen in ihren Län­dern gibt. Und auch hier sind wir fair. Wir zei­gen Tat­sa­chen auf und kon­tras­tie­ren Argu­men­te. Wir machen kei­ne Pro­pa­gan­da. Für niemanden.

Kei­ne Monokultur
Ter­ror, Ter­ror, Ter­ror. So kön­nen Nach­rich­ten­sen­dun­gen nicht sein. Es ver­stellt den Blick auf ande­re wich­ti­ge The­men. Es beein­träch­tigt die jour­na­lis­ti­sche Kon­trol­le ganz ande­rer Ent­schei­dun­gen. Und es gibt den Men­schen das fal­sche Signal. Das Gesag­te gilt auch für Ukrai­ne, Ukrai­ne, Ukrai­ne oder Grie­chen­land, Grie­chen­land, Grie­chen­land. Anstän­di­ge Bau­ern wol­len kei­ne Mono­kul­tur. Anstän­di­ge Nach­rich­ten­re­dak­teu­re wie wir wol­len mit sel­te­nen Aus­nah­men viel­fäl­ti­ge Sen­dun­gen bieten.

Soweit die Wer­te. Ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit. Nun zum Hand­werk unter Zeitdruck.

»Rich­tig geht vor schnell«- richtig?

Was macht eine Nach­rich­ten­re­dak­ti­on, wenn die Eil­mel­dung über Explo­sio­nen am »Sta­de de France« kommt oder über eine Bom­be in einem Kran­ken­wa­gen in Han­no­ver? Was, wenn wie jüngst der Ter­ror­ver­däch­ti­gen Salah Abde­s­lam in der Nähe eines für klei­ne Prei­se bekann­ten Super­mark­tes in Ost­west­fa­len gese­hen wor­den sein soll? Die ehr­li­che Ant­wort: dann wird es knifflig.

»Alles raus­hau­en«, sagen die Betrei­ber man­cher Live-Ticker. »Right or wrong – my click«. Ande­re sagen, »Ordent­li­che Jour­na­lis­ten war­ten ab. Sie war­ten so lan­ge ab, bis wir eine anstän­di­ge Bestä­ti­gung haben.«

In Wirk­lich­keit ist es kom­pli­zier­ter. »Exklu­si­ve Mel­dun­gen sind gut, exklu­si­ve Demen­tis sind sehr schlecht«, sag­te mein Vor­gän­ger im Amt – und er hat Recht. Bei uns muss alles stim­men. Aber wir kön­nen auch nicht die Letz­ten sein. Wären wir es oft oder immer, war­um soll­ten die Men­schen aus­ge­rech­net bei uns Infor­ma­tio­nen suchen? Nach­rich­ten sind Nach­rich­ten, nicht das Feature.

Ein­hun­dert Sekun­den Einsamkeit

Was also tun, wenn man manch­mal in Sekun­den eine Ent­schei­dung tref­fen muss? Vie­le eher­ne Regeln stam­men aus der Zeit mit einer Sen­dung pro Stun­de oder mit einem Redak­ti­ons­schluss vor dem Druck. Ganz wich­tig sind Erfah­rung und Plau­si­bi­li­täts­prü­fung. Eine Bom­be im Kran­ken­wa­gen? Kann sein, aber hört sich doch sehr schräg an. Da war­ten wir lie­ber, bis wir mehr wis­sen. Die Poli­zei berich­tet über eine Fahn­dung in Ost­west­fa­len? Gute Quel­le. Machen und ein­ord­nen, mit dem Hin­weis dar­auf, was wir alles nicht wis­sen. »Fahn­dung ja, aber ob es um den Haupt­ver­däch­ti­gen aus Paris geht, das wis­sen wir nicht.«

Und kon­kret: Der Deutsch­land­funk macht so gut wie kei­ne Live­ti­cker. Wir brin­gen Eil­mel­dun­gen und twit­tern. Da ste­hen wir zu. Wir über­las­sen das Netz nicht stolz den ande­ren. Wir wol­len dabei aber immer noch stolz auf unse­re Arbeit sein. Heißt: Tweet und Eil­mel­dung immer mit Quel­len­hin­weis. Dann schrei­ben wir Mel­dun­gen für das Netz und für die nächs­te Sen­dung. Immer mit Trans­pa­renz: was ist gesi­chert und was nicht. So kann es schnell gehen und gut zugleich.

Exkurs: Das Zwei-Quellen-Prinzip

»Eine Quel­le allein begrün­det kei­ne Nach­richt. Für eine Nach­richt braucht es min­des­tens zwei Quel­len.« So sagen vie­le. Manch­mal reicht aber eine Quel­le, zum Bei­spiel die eines Kor­re­spon­den­ten, der etwas gese­hen oder gehört hat. Manch­mal sind zwei oder drei Quel­len kei­ne Hil­fe – schlicht, weil sie alle die­sel­be Ur-Quel­le haben: einen Poli­ti­ker, der etwas geschickt plat­ziert hat oder ein Gerücht, wel­ches auch bei der n‑ten Wie­der­ho­lung eines bleibt: näm­lich ein Gerücht. Mir gefällt bes­ser, was im Pres­se­ko­dex steht: »Unbe­stä­tig­te Mel­dun­gen, Gerüch­te und Ver­mu­tun­gen sind als sol­che erkenn­bar zu machen.« Und, wenn es nur eine Quel­le gibt, wir aber von Rele­vanz und Wahr­heit über­zeugt sind, dann mel­den wir und legen alles offen.

Ich kann nur hof­fen, dass die­se »Phi­lo­so­phie« Bestand hat und nicht so bald dem jour­na­lis­ti­schen Zeit­geist geop­fert wird.

Anmer­kun­gen

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