Du schaust aus dem Küchenfenster, ahnst nichts Böses und wirst Zeuge eines Dramas.
Das Erdbeerbeet ist mit Federn übersät. Ein Greifvogel sitzt auf seiner Beute, schirmt sie mit den Flügeln ab und scheint zu fressen. Es dauert ein bisschen, das zu sortieren, die Größe des Greifs genauer einzuschätzen und zu realisieren, dass die Beute noch lebt.
Es handelt sich um eine Ringeltaube, von denen ein oder zwei Paar bei uns auf dem Grundstück leben und ein weiteres Dutzend regelmäßig an rückt, um von den Bucheckern am Waldrand zu fressen.
Der Angreifer, der ersten schnellen Recherche nach ein Sperber, ist kaum größer als seine Beute – wenn überhaupt. Er versucht offenbar nicht, sie zu töten, sondern rupft und rupft und rupft. Ist es vielleicht ein noch unerfahrenes Jungtier? So wird das nichts mit der fetten Mahlzeit.
Zwar ist Glas zwischen uns und der Szenerie, aber immerhin ist Gelegenheit für eine Menge Fotos.
Irgendwann bemerkt er die Zuschauer an der Küchentür, fühlt sich gestört und verschwindet. Die Taube liegt auf dem Rücken im Beet, man sieht, wie sich der Brustkorb hebt und senkt. Im Todeskampf, scheint es.
Während wir noch diskutieren, was zu tun ist – ob und wie man der Taube helfen oder ob man ihrem Leiden ein Ende machen solle und wenn ja wie – rappelt sich die ramponierte Taube aus dem Federhaufen auf und sitzt auf der Beeteinfassung. Fliegen kann sie nicht mehr, wirkt total verstört, sie blutet, aber sie lebt. Der Sperber ist inzwischen zurückgekehrt, hält aber Abstand und hockt auf dem Gewächshaus.
Wir haben beschlossen, abzuwarten. Entweder der Sperber bekommt eine zweite Chance. Oder die Taube segnet das Zeitliche. So ist die Natur.
Nach vielleicht drei Stunden ist die Taube aus dem Erdbeerbeet verschwunden. Sie hat es geschafft, sich hinter dem Gewächshaus in einem Strauch zu verkriechen, der eine gewisse Sicherheit bietet. Gegen Abend ist sie auch dort nicht mehr, hat sich wahrscheinlich Richtung Waldrand abgesetzt, wo ihr Nest war. Das kann sie zwar sicher nicht erreichen, aber immerhin gibt es auch Boden zahlreiche Verstecke – und Wasser und Futter. Sie hat eine wenn auch kleine Chance.
Aber nur, wenn sie weder der Sperber entdeckt noch der Marder noch der Waschbär noch der Fuchs noch die Katzen.
Eine Nachsuche am nächsten Morgen bringt kein Ergebnis. Ob die Taube es geschafft hat oder nicht, muss offen bleiben. Falls nicht, ist sie Teil der Nahrungskette geworden. Auch das ergibt einen Sinn im Reich von Mutter Natur.
Vor sechs Jahren, fast zur gleichen Zeit im Dezember, sind wir schon einmal Zeugen einer winterlichen Jagd an fast derselben Stelle geworden – allerdings einer erfolgreichen. Und es lag noch Schnee. Damals war es aber wohl ein Habicht, der vor unserem Wohnzimmer am Waldrand eine Amsel geschlagen hat.