Ein Leben im Anderssein

Auf der Büh­ne: Rai­mund Hoghe.

Man­chen mag es ver­wun­dern, dass ich einem buck­li­gen, schwu­len Tän­zer ein paar Zei­len wid­me. Aber Rai­mund Hog­he und mich ver­bin­den zwei Din­ge. Er hat eines der für mich wich­tigs­ten Bücher geschrie­ben – so schmal es auch ist. Immer wie­der habe ich es Volon­tä­ren als Lek­tü­re emp­foh­len: »Anders­sein. Lebens­läu­fe außer­halb der Norm«.[1]Anders­sein. Lebens­läu­fe außer­halb der Norm. Samm­lung Luch­ter­hand, Darm­stadt 1982.

Wer wis­sen will, wie man jour­na­lis­tisch schreibt bzw. frü­her mal schrieb, soll­te es lesen. Nicht umsonst hat Rai­mund Hog­he den Theo­dor-Wolff-Preis 197374 bekom­men.

Ich den­ke: Es ist das (Hin-)Sehen, das das Schrei­ben erst ermög­licht, sich in ihm Gestalt schafft.

Es schmerzt mich, dass Rai­mund Hog­he, den alle Welt – nahe­zu aus­schließ­lich – mit dem Tanz und Wup­per­tal und Pina Bausch ver­bin­det, nur zwei Tage nach sei­nem Geburts­tag mit 72 Jah­ren gestor­ben ist. Für mich ist er vor allem ein groß­ar­ti­ger Autor.

Dass er auch für das West­fa­len-Blatt schrieb, ist das zwei­te, das uns ver­bin­det. Ohne dass er je davon gewusst hät­te. Wir sind uns nie begeg­net. Nah war er mir all die Jah­re trotzdem.

In dem Bie­le­fel­der Blatt wird man heu­te ver­geb­lich nach einem Nach­ruf suchen. 

Das spricht für sich. Und für die Bran­che als solche.

Der fol­gen­de Text stammt nicht aus dem Büch­lein. Mir gefällt er dennoch.

 "Ich erinnere mich"

 Text der Vorstellung 'Another Dream'
 Raimund Hoghe
 First published on Sarma, written December 2000
 
 
I
 
Ich erinnere mich, dass ich unbedingt Zwölf werden wollte, um Filme sehen zu können, für die man Zwölf sein musste.
 
Ich erinnere mich, dass mein Grossvater jeden Film im "Roxy" und im "Astoria" sah.
 
Ich erinnere mich an die durch den Regen laufende Audrey Hepburn in "Frühstück bei Tiffany".
 
Ich erinnere mich an schlecht besuchte Nachmittagsvorstellungen in der  "Lichtburg" und dass man wieder aus dem Kino geschickt wurde, wenn nicht  mindestens acht Zuschauer den Film sehen wollten.
 
II
 
Ich erinnere mich, dass draussen Schnee lag und ich nasse Füsse hatte,  als ich mit meiner Schwester im Kino sass und die "West Side Story" sah.
 
Ich erinnere mich, dass Romy Schneider und meine Schwester am selben Tag geboren wurden.
 
Ich erinnere mich, dass ich in Else Lasker-Schülers Schauspiel "Arthur  Aronymus und seine Väter" einen Tannenbaum über die Bühne trug.
 
Ich erinnere mich, dass der Manager der Beatles aus Priscilla White die Sängerin Cilla Black machte.
 
III 
 
Ich erinnere mich, dass Judy Garland auf der Bühne des Palace Theatre in New York sagte: "I'll stay as long as you want me."
 
Ich erinnere mich an die singende Nonne Soeur Sourire, die mit ihrem  Lied "Dominique" einen Welterfolg hatte und die sich später mit ihrer  Freundin das Leben nahm.
 
Ich erinnere mich an die Entrüstung, als Edith Piaf den zwanzig Jahre  jüngeren Griechen Théo Sarapo heiratete und strahlend vor die Kameras  trat. Auf der Bühne sangen sie zusammen "A quoi ça sert l'amour".
 
Ich erinnere mich, dass ich 17 war, als mir Rex Gildo auf einer Starpostkarte "Alles Liebe und Gute" wünschte.
 
Ich erinnere mich, dass Minouche Barelli 1967 beim Grand Prix Eurovision  für Monaco antrat und einen Antikriegsschlager sang - "Boum Badaboum".
 
Ich erinnere mich an die Beach Boys, Donovan und die Beatles bei Maharishi in Indien.
 
Ich erinnere mich, dass Cass Elliot von den "Mama's and Papa's" nach  einer Reihe von Parties in London starb, inklusive einer Feier zum 31.  Geburtstag von Mick Jagger. Sie war 33 Jahre alt. "The good times are  coming” war der Titel einer ihrer letzten Platten."
 
IV
 
Ich erinnere mich an die Nachbarin, deren zwei Söhne beim Spielen im Hof von einem Blindgänger getötet wurden.
 
Ich erinnere mich an den Ratschlag, sich bei einem Atombombenabwurf in  den Schatten einer Mauer zu legen und den Kopf mit einer Aktentasche zu  schützen.
 
Ich erinnere mich an die Fotos aus Vietnam, an die vom Napalm verbrannten Gesichter und an die vor den Bomben fliehenden Kinder.
 
Ich erinnere mich an die bunten Glanzpapierbilder von HitlerJungen und BDM-Mädchen im Poesiealbum einer Tante.
 
Ich erinnere mich an einen Freund, der als Kind sehr beeindruckt war,  als er auf dem Arm eines jüdischen Onkels mehrere Zahlen sah. Was die  Zahlen zu bedeuten hätten, habe er gefragt. "Das ist meine  Telefonnumer", habe der Onkel geantwortet. "Und ich dachte", sagte der  Freund, "das ist aber praktisch, immer die Telefonnummer auf dem Arm zu  haben."
 
Ich erinnere mich, dass in der Schule nie über den Krieg und den Holocaust gesprochen wurde.
 
V
 
Ich erinnere mich an Papierdrachen, die weit in den wolkenlosen Himmel flogen.
 
Ich erinnere mich an die gestärkten Petticoats meiner Schwester, die zum  Trocknen auf den Boden gestellt wurden und hart werden sollten wie  Gips.
 
Ich erinnere mich an die toupierten Haare der Frauen und die hautengen Hosen der Männer.
 
Ich erinnere mich an das Gipsbett, in dem ich schlief und das jeden  Abend mit zwei hautfarbenen Riemen über Brust und Bauch geschlossen  wurde.
 
Ich erinnere mich, dass ich im Eilzug nach Wuppertal die Nachricht hörte, dass der erste Mensch den Mond betreten hatte. 
 
Ich erinnere mich an den Marsch von 200 000 Bürgerrechtlern auf  Washington und die Rede von Martin Luther King - "I have a dream".
 
Ich erinnere mich an das beliebte Café in der Bielefelder Innenstadt, in dem Schwarze nicht bedient wurden.
 
Ich erinnere mich an die Mutter des 800m-Läufers, die nach dem  0lympiasieg ihres Sohnes meinte: "Es ist so wichtig, dass ein Deutscher  gewonnen hat. Und vor allem: mal Wieder ein Läufer mit weissen Beinen."
 
Ich erinnere mich an das Lächeln der weissen Männer, die an der  Ermordung des schwarzen Politikers Patrice Lumumba im Kongo beteiligt  waren.
 
Ich erinnere mich an den warmen Sommertag, an dem mir der aus Ruanda  nach Europa geflohene Roger erzählte, dass er hier keine Arbeit finde,  weil er Schwarz sei. "And I cannot change my skin", sagte er und die  Sonne schien und am Himmel war keine Wolke zu sehen.
 
VI
 
Ich erinnere mich an den Tag, an dem Marilyn Monroe starb und ihr Foto  auf dem Star-Kalender neben dem Wohnzimmerschrank hing. "Ihr Herz wog  300 Gramm", wurde später berichtet.
 
Ich erinnere mich, dass meine Schwester die Kellertreppe putzte, als in den Nachrichten Kennedys Tod in Dallas gemeldet wurde.
 
Ich erinnere mich an das mit Blut bespritzte zartrosa Kostüm von Jackie Kennedy.
 
Ich erinnere mich an den imitierten Persianermantel meiner Mutter und  den ungetragenen Obergangsmantel, den das Geschäft nach ihrem Tod wieder zurücknahm.
 
Ich erinnere mich, dass Martin Luther King einen Tag vor seiner  Ermordung sagte: "Wie jeder möchte ich gern ein langes Leben leben."
 
Ich erinnere mich an den Tag, an dem die letzte Ausgabe der "Film-Revue" erschien. Es war, als sei einer gestorben.
 
VII
 
Ich erinnere mich an die Kassenfrau vom Theater und ihren Trum, zum Mond  zu reisen. "Einmal da oben gehen - davon träum' ich", sagte sie und  lächelte.
 
Ich erinnere mich an die Blicke der Sehnsucht in Viscotnis "Tod in Venedig".
 
Ich erinnere mich an Maria Callas, die in einer Meisterklasse ihre  Schüler aufforderte, keine Feuerwerke zu entzünden, sondern die eigenen  Gefühle zu entwickeln.
 
Ich erinnere mich an die lautstarken Proteste gegen Ingmar Bergmans Film "Das Schweigen".
 
Ich erinnere mich an den Kindermörder Jürgen Bartsch, der als Bestie galt, kastriert werden sollte und bei der Operation starb.
 
Ich erinnere mich an das Rot der Mao-Bibel und den grünen Rasen in Antonionis Film "Blow up".
 
Ich erinnere mich an Black Power und das Rosa der Schwulenbewegung.
 
Ich erinnere mich an Pasolinis "Ragazzi di vita" und an Mike, der in  Hannover auf den Strich ging und seine Schlange liebte, die er Future  nannte.
 
Ich erinnere mich an die Lyrikerin Rose Ausländer, an das Bett, das sie  nicht mehr verlassen konte und in dem sie bis zu ihrem Tod Gedichte  schrieb. "Wirf deine Angst in die Luft", heisst es in einem dieser  späten Gedichte.
 
 ©Raimund Hoghe
Contextual Note: This is the text of the solo-performance ‘Another  Dream’ (English version), created by the German theatre maker Raimund  Hoghe in 2000. The performance reflects upon the 1960’s and concludes  the trilogy, which started with ‘Meinwärts’ (1994) and ‘Chambre séparée’  (1997).

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